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Holländische Literatur

Geehrter Herr Redakteur, Sie bitten mich um einen Aufsatz über die Holländische Literatur und geben es mir anheim, die Generation zu wählen, die ich behandeln möchte. Nach allerlei unvermeidlichen Zusammenfassungen fürchte ich: diejenige denn, in der ich selber lebe. Daß ich Ihnen jedoch mein Dafürhalten als Brief unterbreite, ist keine zufällige literarische Formfrage: Sie haben sich just an jemand gewandt, dessen polemische Reputation die weiteren Qualitäten, die er haben mag, zu überwältigen droht, und an jemand, der in der vaterländischen Literatur - mit Recht, denkt er zuweilen selbst - gewissermaßen als unerwünschter Fremdling betrachtet wird. In diesem letzteren Bezug ist er dann wohl für Ihre Zeitschrift der rechte Mann...

Ihre deutschen Leser, so sagen Sie, wissen von der holländischen Literatur nach Multatuli nicht eben viel. Soll das heißen, daß sie das Nötige wissen von Multatuli? - Wenn ja, dann haben sie vom Besten kennen gelernt, und sicherlich vom Genialsten, was unsere Prosaliteratur zuwege gebracht hat. (Ich fürchte, daß sie auch Kenntnis nahmen von der Produktion der Frau van Ammers-Küller, aber das gehört zu jenen unbedingten Gesetzen des Kunstlebens, nach denen bei uns Marie Corelli und Florence Barclay einmal die meistübersetzten Autoren des Auslandes waren.) Multatuli ist das stärkste Temperament, der lebendigste Mensch gewesen, der sich in unserer gesamten Literatur manifestiert hat, und dieses Auftreten fiel in eine Periode, wo das ganze Leben bei uns - und sicher die Literatur - in einem bürgerlichen Pastorenbrei erstarrt lag. Wahrscheinlich war unser Volk für diesen besonderen Brei vorbestimmt, wofür man auch nach Multatulis Auftreten im-

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mer wieder überzeugende Beweise finden kann; aber alles, was unholländisch sein kann in einem Holländer, in diesem besonderen Sinne, sieht sich verkörpert in dem Mann, der sich ein wenig überpathetisch ‘Multatuli’ nannte und der Douwes Dekker hieß. Das überraschend Ursprüngliche dieses Mannes, der, hervorgegangen aus der Inlands-Verwaltung von Niederländisch Indien, bis zu seinem vierzigsten Jahr lediglich unter der Hand an literarische Prästation gedacht hatte, kann zum Teil durch gesellschaftliche Umstände erklärt werden: er kämpfte für den Javaner und für Java, als sei dort - und in seinem persönlichen Drama - das Weltgeschehen lokalisiert; hätte man ihm gesagt, daß die Welt noch andere Kolonien besitze mit anderen Formen von Gewinnsucht und Unterdrükkung; daß der Konflikt zwischen einem Lande, das man als einen entlegenen Winkel von Europa betrachten kann, und seinem famosen ‘Smaragdgürtel’ Europa doch wohl kaum interessieren dürfte, er hätte es aller Wahrscheinlichkeit nach nicht verstanden und gewiß Feuer gefangen. Er schrieb das glühendste Holländisch, das je von einem Holländer geschrieben, in der vollen Überzeugung, daßer, als der gewaltige Individualist, der er war, dabei war die Welt neu zu gestalten: diese naive Überzeugung machte ihn zu einem großen Schriftsteller, ganz gleich in welcher Konstellation auch immer. Er gab sich selbst aus einem rasenden Bedürfnis heraus, aber gleichsam angesichts der Welt. Weitaus mehr Mann der Aktion und folglich vulgärer in seinen Mitteln als Nietzsche, zuweilen aber von einer menschlichen Unmittelbarkeit, über die Nietzsche erhaben war, hat sein Auftreten als ‘dichterischer Denker’ etwas, das an die andere Gestalt gemahnt: jedoch war er keineswegs ein ‘danebengeratener Nietzsche’, wie ein oberflächlicher Klassierer wohl einmal vermeinte. Er bleibt - auch für ‘gute Europäer’ von heute - etwas durchaus und unersetzlich anderes; und dann, der Max Havelaar erschien zwölf Jahre vor der Geburt der Tragödie.

In ihm besaß Holland auch dem übrigen Europa gegenüber eine Figur von unverkennbar erstem Rang; allein, so meinten

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unsere großen Ästheten, die nach ihm kamen, er sei absolut kein erstrangiger Künstler. Für sie und ihre Fortsetzer galt er als ein Wegbereiter, als der ‘Einläuter’ einer neuen Blütezeit, der neuen und diesmal unbeschädigten Kunst, die um 1880 herum aus ihnen geboren werden sollte. Diese Theorie ist zur Stund' peinlichst veraltet, desgleichen die großen ästhetischen Funde derer, die sie kündeten: wenn man Multatuli nun ablehnt, darf es nicht mehr aus Erwägungen der ‘Kunst’ geschehen, sondern aus Kollektivismus; denn unzweifelhaft ist dieser Vorkämpfer des Javaners, der einzige holländische Schriftsteller, dessen Werk soziale Resultate hatte, in den Augen des Massenmenschen ein abscheulicher Individualist.

Die Bewegung von 1880, die auf ihn folgte, vergegenwärtigt rein literarisch gesprochen gewiß ‘ein Aufblühn ohnegleichen’. So hat unsere gesamte Literaturgeschichte es seit damals vorgetragen, und so wird es auch wohl sein. Daß die Sprache und die besten Hervorbringungen der Nieuwe-Gids-Richtung nun schon reichlich alt anmuten, während Multatulis Prosa so lebendig blieb, als sei sie erst gestern geschrieben, das ist eine andere Sache. Die Nieuwe-Gids-Bewegung hat literarisch doch weitgehende Folgen gehabt.

Den Schriftsteller einer großen Nation mag es verwundern zu sehen, welche außergewöhnliche literarische Ernte unser Land jahraus jahrein unter Dach bringt. Das hat seinen Grund: dank 1880 haben wir eine Anzahl vortrefflicher Lyriker (was die Literatur eines Landes quantitativ nie nennenswert bereichert); wir besitzen für die Prosa ein paar heftig ringende, mehr oder weniger gestutzte und an die Wand gedrückte Geister, die man ‘highbrows’ nennen könnte, die aber immerhin nach etwas anderem streben, als nur holländischer Autor zu sein; wir haben dann das Heer der Schreiberiche, bei denen die Ergebung in eigene Beschränktheit schon gleich beim ersten Roman einsetzte und die mit unermüdlichem Vertrauen und dito Erfolg die Bücherlieferanten des geistigen Mittelstandes wurden. Das ist immer so gewesen. Mehr noch als unsere Dichter scheinen unsere Prosaisten

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vom Ausland beeinflußt; und dieser Einfluß ist, auch europäisch gesehen, sowohl heilsam als unvermeidlich; aber einem einzigen Multatuli, dessen Persönlichkeit jeglichen Einfluß wieder aufhob, stehen die vielen gegenüber, die bei Licht besehen doch nie mehr gaben als gute Pastiches ausländischer Modelle. Die Zeitgenossen Multatulis schrieben Romane à la Walter Scott oder Schilderungen im Stil der englischen Humoristen, und für diese Sorte Literatur war ein Quentchen ‘Inhalt’ in der Theorie jedenfalls noch notwendig; nach 1880 schien das Land vom Pastiche erlöst: das pastorale Nachgedröhne von Byrons schlechtester Romantik wurde ersetzt durch eine intensive und wohlverstandene Bewunderung für das viel mehr wirklich-Poetische in Shelley und Keats; in der Prosa traf man auf Zola und die Goncourts. Mit einer ganz besonderen Kraft entdeckte und übte man die Kunst des Wortes. Die Bewegung von 1880 war eine Revolution, insoweit es die Sprache und den Stil betraf; aber wenn das Nietzschewort wahr ist, daß jegliche literarische Dekadenz sich kennzeichne durch das Wort, das über den Sinn hinausgehe, sodaß das Ganze kein Ganzes mehr sei, dann trug auch diese Revolution ihren Untergang bei der Geburt schon in sich.

Nichtsdestoweniger verdanken wir dem Nieuwe Gids allerlei Dinge, mit denen man sich dem Ausland gegenüber später noch brüsten konnte: unser größter Prosaist von 1880, Lodewijk van Deyssel, schrieb ‘expressionistische’ Seiten in weitaus gewagterem Stil, sagt man, als das was die Sturm-Gruppe hervorgebracht hat, und wieviel früher? In der Poesie tat unser Dichter Herman Gorter mit seinen ‘sensitivistischen’ Versen keinesfalls weniger. Allein die Tatsache bleibt, daß Gorter aus anderen Gründen als diesen ein großer Dichter war, und daß van Deyssel bis auf eine Anzahl seiner Kritiken so gut wie überhaupt nicht mehr gelesen wird. Sein Roman Een Liefde (Eine Liebe), der seiner Zeit Skandal erregte, wie es ein holländischer Zola wohl oder übel tun mußte, erscheint uns heute eine langweilige Novelle mit Elephantiasis, die auf

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schauderhafte Art die Beschränktheit unseres Landes fühlen läßt; noch besser lese man von ihm wieder mal Frank Rozelaar, eine Art von Gedichten in Prosa, in denen das besondere Talent dieser und gleichgearteter Stilisten in den frischesten Farben erhalten blieb. Mit anderen Namen will ich Sie hier nicht aus der Fassung bringen; wollen wir der Kürze halber konstatieren, daß von den großen Prosaisten des Nieuwe Gids und ihren Nachfolgern heute zehn Bücher vielleicht nicht ganz vergessen sind. Die Schriftsteller für den geistigen Mittelstand hingegen empfingen zur selben Zeit das Embryo ihrer Kunst: als sie begriffen hatten, daß ein ‘Inhalt’ nicht nötig und eigentlich wohl gar vom Bösen sei, daß die ‘Form’ alles decke bis zum Banalsten und Kläglichsten herunter, da schienen auch sie gerettet, und unermüdlich gebaren sie die einzige Kunst, die eine spezifisch holländische Tradition seit dem 19ten Jahrhundert zu haben scheint: den Wohnstubenroman und den Bauernroman als seinen vollkommen ebenbürtigen Rivalen. Es war die Manie des Jungen mit dem neuen Kodak, der aber auch jedes Stilleben verewigen will; das Land wurde überflutet mit dieser Klasse von Romanen, da die Autoren ja so bequem aus ihrem eignen noch so kleinen Gärtchen ernten konnten.

Daneben blieb die Poesie - ihrer Natur gemäß glücklicherweise - etwas anderes. Schon gleich mit den ersten Dichtern von 1880: Willem Kloos, Albert Verwey, Herman Gorter, hat eine neue Tradition von reiner und vollwertiger Poesie bei uns festen Fuß gefaßt. Sie geht über Leopold, Boutens und Henriette Roland Holst zu A. Roland Holst, der zweifelsohne der größte Dichter der vorigen Generation bis auf den heutigen Tag ist.

Die später gekommenen haben als einzige Reaktion auf ihre Vorgänger die Aufmerksamkeit wieder dem Sinn zugewandt, die Syntax sowohl einfacher als geschmeidiger gemacht, und hier konnte der Triumph des Wortes weiterhin wirksam bleiben, war auch die Manie für das Wort schon abgetan.

Da jedoch die Poesie in den meisten Fällen unübersetzbar

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bleibt, will ich für Sie doch lieber wieder zur erzählenden Prosa zurückkehren. Der weitaus größte Teil unserer Roman-literatur (kurze Erzählungen sind beim Publikum nicht erwünscht, sodaß sie weniger geschrieben werden, oder, sagen wir besser, weniger in Buchform erscheinen) dürfte dem interessant erscheinen, der in Holland über holländische Dinge lesen will, in Form eines Baedekers gewissermaßen und so, wie man anfängt sich für bretonische Bücher zu interessieren, falls man sich just in der Bretagne befindet. Einen Romancier von Bedeutung findet der Fremde bei uns erst dann, wenn er den Mut nicht allzu schnell aufgibt. Doch verfügt unser echt vaterländischer Realismus über eine Unzahl Autoren-Damen; alle mit genau demselben mitleidschwangeren Ton und mit so ziemlich dem gleichen Talent, so wie man sichs auch im Ausland bei den Durchschnitts-Autoren-Damen vorstellt. Daneben dann eine mehr oder weniger entsprechende Anzahl Autoren-Herren, die den anderen in nichts nachstehn; und zu guter Letzt vertreten die wichtigsten all dieser Autoren Holland doch noch auf ganz würdige Art, gewiß nicht minder würdig als beispielsweise die Herren Henri Bordeaux und René Bazin Frankreich vertreten, wo sie beide Mitglied der Académie Française sind. Bedeutungsvoller als so brauchen Sie es also keineswegs zu nehmen. Die besondere ‘holländische Seele’ bei all dem zeigt sich in einem ständigen Schmachten nach reinem Leben, daß dann doch ganz vortrefflich mit dem Teetisch harmoniert, mit dem holländischen - wohl zu verstehen, und auch dann noch, wenn die Autoren, wie zum Beispiel das Ehepaar Scharten-Antink, ihre Stoffe aus Paris oder Italien beziehen. Es kommt zu guter Letzt doch immer nur darauf an, was man eigentlich sucht. Flandern hat etwas mehr Volksgesundheit, Vergnüglichkeit und Bauernromane (darunter bittere) als Holland; in dieser Hinsicht ist beispielsweise Stijn Streuvels, in dem einige mit aller Gewalt eine Art Knut Hamsun sehen wollen, ein unzweifelhaft verdienstvoller Autor, den man mit bedeutend geringerem Talent kopiert.

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Aber, ehrlich gesagt: ich sehe in dieser ganzen Zeitfolge von und nach 1880 nur zwei Schriftsteller von weitergehender Bedeutung. Die Namen Jacobus van Looy, Frederik van Eeden, Cyriel Buysse kann man noch mit gutem Gewissen nennen; unser wirklicher Romancier großen Stils ist jemand, der mit dem eigentlichen Nieuwe Gids lediglich indirekte Fühling hatte: Louis Couperus. Hier hat man einen, dessen Hervorbringung möglicherweise zu üppig und darum ungleich war, der in gewissen Hinsichten Übereinstimmung aufweist mit dem Bücherlieferanten, dem zu Lebzeiten ein großer Erfolg und ein breites Publikum beschieden war, und der in zehn, fünfzehn Büchern trotz allem eine Höhe zu erreichen verstand wie wenige. Bei ihm wurde der bürgerliche Realismus etwas ganz anderes als die mittelmäßige und leicht lesbare Kopie einer kläglichen Wirklichkeit; er gab Den Haag wieder und machte doch seine eigene Welt daraus; er machte Studien über das Altertum und schrieb mit großer Ungezwungenheit seine Rekonstruktionen; er plauderte charmant und in allen Schattierungen zwischen dem Tiefen und Geringfügigen ‘von und über sich selbst und andere’; er schrieb zuweilen überartistisch und oft prätentiös und schlecht, aber er war ein Romancier und Prosaist von Gottes Gnaden. - Der andere, den ich Ihnen nennen möchte, ist Arthur van Schendel, viel weniger Romancier, aber ein Autor erzählender Prosa von ganz besonderem Gehalt; der einzige, der unsere Sprache nach Multatuli ästhetisch (und doch schon als Reaktion auf die Wortkunst von 1880) gefördert hat. Er schrieb eine Art lyrischer Erzählungen, die man neo-romantisch nannte und die im Italien des Mittelalters spielen, oder in einer mehr getünchten als wirklichen Welt; aber seine Prosa, die stets elegant und beherrscht war, hat sich im Laufe der Jahre kerniger entwickelt, so sehr, daß heute unter den ‘Jüngeren’ nicht ein einziger ist, der die sogenannte ‘neue sachliche Prosa’ wie die eines seiner letzten Bücher: De Waterman (Der Wassermann) überholen könnte. Die Welt van Schendels hat sich vollkommen harmonisch aus sich selbst

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heraus entwickelt: angefangen bei der Spielmanns-Unrast seiner ersten Schweifer-Gestalten bis hin zur männlichen Gerechtigkeit, die sein späteres Werk erfüllt.

Ich habe Ihnen schon gesagt, daß unsere Poesie vortrefflich blieb. Durchweg englisch orientiert, das eine ums andere Mal mehr deutsch und mehr französisch, hat sie durch jeweiligen Austausch eine eigene Art erreicht und einen Reichtum und eine Lauterkeit, die ungewöhnlich heißen mögen. Dies ist das allgemeine Dafürhalten in Holland, aber in dem Sinne, daß das Format der Dichter selbst nach und nach einzuschrumpfen scheint: die Jüngeren anerkennen mit dankbaren Gefühlen die Älteren, die ihrerseits in jenen nur noch die schwächeren Schatten von sich selbst wahrnehmen können. Die Generation von A. Roland Holst (um die Vierzig) sieht die Dichter von 1880 als unersetzliche Größen, zu allererst Gorter und die etwas späteren, worunter Leopold der reinste zu sein scheint. Dagegen gelten die, die folgen (um die dreißig herum), als erheblich verengert: zersetzt, entartet, kurzweg so sehr entfernt von dem ‘reichsten Brunnen der Poesie’, daß es nachgerade ein Wunder zu nennen ist, wenn sie überhaupt noch so gut wegkommen. Ich für meine Person sehe in einem Dichter wie A. Roland Holst einen Wert second to none, auch wenn er in einer anderen Sprache als der unsern geschrieben hätte; aber beinahe den gleichen Grad von Bewunderung zolle ich dem ganz und gar verschieden gearteten Werk von J. Slauerhoff, der zu meiner eigenen Generation gehört. Es ist ein befremdliches Gefühl, zu bedenken, daß man selbst immun wird für das Späterkommende. Und im Grunde müßen wir das ja schon sein, die wir so bitter wenig merken von den Dichtern der ‘allerjüngsten Generation’, so wenig, daß man geneigt ist zu glauben, es sei überhaupt nichts da, während dennoch etwas da sein muß, und sei es nur als Potenz.

Meine Generation debutierte nicht eben rühmlich, aber gegenwärtig will es mir scheinen, daß doch noch ein bemerkenswerter Unterschied besteht zwischen uns und denen, die nach

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uns kommen. Sollte sich die landläufige Meinung als wahr erweisen, so müßte man zu der Erkenntnis kommen, daß unsere Poesie seit 1880 und 90 langsam und würdig, aber darum keinesfalls weniger sicher ausstirbt - nahezu hoffnungslos, das überhaupt zu formulieren! Sie, die nach uns kommen, und das halte ich dann gewissermaßen für die Rettung - werden mit der sogenannten ‘bürgerlichen’ Poesie abzurechnen haben. Eine kommunistische oder faschistische, oder sagen wir besser eine kollektivistische bereitet sich möglicherweise vor; aber dann müßte man annehmen, daß ein neuerliches Aufblühn noch weidlich von materiellen Veränderungen abhängt. Dem sogenannten Nachkriegs-‘Modernismus’ wandten sich innerhalb unseres Sprachgebietes wenige zu: die Dichter H. van den Bergh, Hendrik de Vries und H. Marsman, daneben der in Flandern beinahe ganz allein und unter Einfluß des deutschen Expressionismus stehende Paul van Ostaijen, schienen für einen Moment die Vorhut stellen zu sollen für eine durchgreifende Erneuerung der Form. Aber schon schnell kehrten die geregelten Formen, die alterprobten Rhythmen zurück: trotz allem suchte man Anschluß an den leuchtenden Strom der Älteren. Neben ihren ‘unabhängigen’ Zeitgenossen von De Vrije Bladen ließen sich plötzlich die jungen Katholiken in Prosa und Poesie mit Macht vernehmen: ich nenne Ihnen u.a. Jan Engelman als den weitaus begabtesten; und als Polemisten und Apologeten dieser Gruppe den Brabanter van Duinkerken.

In der Gruppe der Vrije Bladen traten zwei Dichter stark nach vorne: Marsman und Slauerhoff. Der zweite ist im vollsten Sinne des Wortes eine unabhängige Gestalt, ein Dichter, den man versucht ist ‘dekadent’ zu nennen, verwandt den französischen poètes maudits, und von diesen war es auch vor allem Corbière, der ihn in seiner Anfangsperiode faszinierte. Aber ein solches Detail, das ich Ihnen zu Ihrer Orientierung gebe, droht diesem sehr eigenen und starken Werk doch Abbruch zu tun, einem Werk, das besteht aus getriebenem Dichtertum, aus riskanten Nachlässigkeiten und acht-

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losem Raffinement. Der andere, Marsman, weist mehr germanische Verwandtschaften auf, hat den deutschen Expressionismus verarbeitet, ehe er zu jenen ranken und feurigen, schnellen und mitreissenden Versen kam, die ihn am meisten charakterisieren sollten. Er war eine Zeitlang auch der eigentliche Wortführer seiner Generation und vertrat ‘nach außen hin’ den modernen Dichter auf gewiß auffallende Art. Die Rückkehr zu dem mehr elegischen, fließenden Vers vollzieht sich am lautersten in dem Dichter, der nach diesen in den Vordergrund trat: Anthonie Donker.

Es hatte den Anschein, die holländische Poesie könne ohne Kampf eine so große Perfektion erreichen, daß Epigonismus und persönliche Talente auf gleicher Höhe ineinander überzugehen drohten. Worte wie ‘weisse Flammen’, ‘dunkeles Blut’ u.s.w. - zum größten Teil aus dem Vokabularium von A. Roland Holst - schienen untrennbar zu werden vom Gefühlsinhalt aller Dichter dieser Generation. Dazu trugen noch die Theorien eines selbst wieder ungewöhnlich begabten Dichters bei, der auf gefährliche, wenn auch zierliche Weise die Waage hält zwischen zwei Generationen: die des etwas älteren M. Nijhoff, dessen Grundsätze, ein Gedicht habe mehr Wert als die Persönlichkeit des Dichters, die Poesie singe den Dichter ‘los von sichselbst’, ein Gedicht sei einer Blume gleich, einem freistehenden Gewächs usw., von den Nachfolgern dankbar zu Glaubensartikeln und Losungen erhoben wurden.

Ein Teil der Jüngeren aus den Vrije Bladen tat sich darauf in der Zeitschrift Forum zusammen, dessen erste zwei Jahrgänge hauptsächlich von Menno ter Braak und mir geleitet wurden. Forum wurde eine polemische Zeitschrift, kämpfend gegen einen zu hoch geschraubten Ästhetizismus in der Kunst und für die Bedeutung der Persönlichkeit an erster Stelle. Im Grunde ein sehr individualistisches Organ, das dennoch Persönlichkeiten aus anderer und selbst entgegengesetzter Richtung zu Wort kommen ließ. Es fand begreiflicherweise heftigen Widerstand: die Katholiken nannten es

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ohne Moralität und desperat im 19. Jahrhundert verhaftet, man sprach von einem ‘mordenden Negativismus’; sicherlich waren wir nicht konstruktiv und nicht kollektivistisch genug im heutigen Sinne dieser Worte; zu guter Letzt war von einem Forum-Ton und einer Forum-Poesie die Rede, diese letztere in Tat und Wahrheit die Verflachung und Verpopularisierung des ironischen und schrullenhaften Genres, das schon weitaus früher von zwei Dichtern besonders gepflegt wurde: J. Greshoff in Holland und Richard Minne in Flandern. Als Offenbarung brachte die Zeitschrift Verse von S. Vestdijk, jetzt eine der seltsamsten Figuren der Epoche und gewiß einer der bedeutendsten unter den Dichtern, die in den letzten Jahren in Holland debutierten.

Abgesehen von allem andern strebte Forum am meisten danach, auch als Holländer ‘guter Europäer’ zu sein. Die Poesie ist ein bevorzugtes Genre, auch wenn es heißt, daß sie einschrumpelt. Um Freud oder Leid zu singen, braucht man weniger Baustoffe als der Romancier, man kann es sich als Lyriker eher leisten, einzig und allein dem kleinen Volk von Holland anzugehören. Für jene, die sich der Prosa zuwenden wollten, war die Aufgabe anders und unendlich schwieriger. Wir haben Essays geschrieben und kurze Erzählungen, ehe wir uns überhaupt an den Roman heranwagten und möglicherweise auch, um uns von dem Fatum zu befreien, daß unser Roman klebt; denn in Wirklichkeit besteht die eine Gefahr, die noch größer ist als die zu scheitern: allzu gut damit fertig zu werden, wirklich aufgenommen zu werden von diesem geistigen Mittelstand, ohne den der Romancier in einem kleinen Lande nicht bestehen kann, und dessen Beifall ihn unversehens in die Rolle des Bücherlieferanten zu zwingen vermag.

Die Prosa von heute, der wirklich Bedeutung zukommt, ist außerordentlich gering. Wir besitzen ausgezeichnete essayistische Prosa von Menno ter Braak, unter der Het Carnaval der Burgers (Karneval der Bürger) einen ersten Platz einnimmt, dazu intelligente aber beschränkte Romanversuche

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vom selben, von denen ich Hampton Court nenne als das Buch, das diesen Autor am besten repräsentiert. Ohne Zweifel ist er der scharfsinnigste Essayist seiner Generation, und die Ehrlichkeit, die ihn kennzeichnet bei der Bestimmung seines Platzes auf Erden, spricht überzeugend aus seinen Essays, wo seine Romane ihm Abbruch tun. Wir haben einige herrliche Erzählungen von Slauerhoff, man findet darin dieselben Qualitäten wie in seiner Poesie. Eine nachlässige aber suggestive Prosa führt den Leser mit in eine hoffnungslose und zuweilen großartige Sphäre einer romantischen Menschlichkeit, beherrscht von einem Gefühl des Versagens, doch durch eine intuitive Schärfe zuweilen der Weisheit verwandt. Zwei kleine Romane von Marsman, der nicht als Buch erschienene Vera und De Dood van Angèle Degroux, voll eines dichterischen Einsatzes und glanzvoll hier und da im Stil, sind als Romanversuche schlechterdings gescheitert und lediglich als erzählende Prosa von Bedeutung für diesen Dichter. Albert Helman, ein Westindier, übertraf bis heute nie mehr sein erstes Buch dichterisch gefärbter Jugenderinnerungen aus Suriname, Zuid-Zuid-West (Süd-Süd-West). Er verstand es jedoch, ein großes Publikum zu fesseln mit Arbeiten, die man ‘geraten’ nennen muß und von denen ich nur sagen kann, daß die vielgelesene Stille Plantage mich langweilte, wie wenige Bücher es je vermochten, und daß sein letzter Roman Waarom niet, ob auch von gänzlich anderer Inspiration und möglicherweise voll vortrefflicher Dinge, mich vorderhand noch abschreckte durch einen Umfang von über 1000 Seiten. Als Stilist ist Helman von einer großen Unberührtheit und hat nicht zu leugnende Qualitäten. Zwei flämische Autoren haben wirklich sehr gute Romane geschrieben: Maurice Roelants mit dem konzisen und doch zartgefärbten Komen en Gaan (Kommen und Gehen) und der katholische Gerard Walschap mit einer Reihe kurzer Romane von ebenso bündigem Stil wie psychologischer Schärfe, von denen mir Adelaide bis heute der charakteristischste zu sein scheint. Die Novellen von S. Vestdijk, die sehr bemerkens-

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wert sind und von ganz eigenem Ton und eigener Atmosphäre, sind noch nicht in Buchform erschienen.

Im allgemeinen lautete die Parole, die nach und nach unter den sogenannten ‘Jüngeren’ erkannt und weitergegeben wurde: die Erkenntnis der Verengung Hollands im Wohnstuben- und Bauernroman, die Notwendigkeit, über unsere Grenzen hinauszusehen, um den Wert eines Autors festzulegen, das Streben nach einem sogenannten ‘europäischen Niveau’.

Es ist schade, daß dieses Programm von einzelnen identifiziert wurde mit einer neuen literarischen Technik und dem Hineinbeziehen eines lediglich unholländischen Vorwurfs. Auf diese Art deckt es sich billigerweise sowohl mit einem neuen Artikel für den Buchverbraucher als auch mit der natürlich unvermeidlich werdenden kollektiven Mode. ‘Schwer arbeitende Confratres’, wie diese Leute selbst sich gerne nennen, drängen sich mächtig auf den ersten Rang, den man durch große Auflagen erreicht; das Publikum zumindest reagiert schon ganz flott. Der ‘Elite-Autor’ scheint bei uns nicht gut möglich zu sein; dafür ist unser Publikum zu klein, Neuauflagen gehören bei uns zu den Ausnahmen.

Es gehört wohl zu meiner Aufgabe, Sie auf unsere mehr populären Autoren hinzuweisen, zumal auch jene besondere Eigenschaften aufzuweisen haben. Johan Fabricius hat Casanova nicht einmal schlecht für unseren Geschmack adoptiert in einem Stil, der, um mit seinen Bewunderern zu sprechen, vollständig frei ist von ‘Problemen’; Den Doolaard schrieb ungemein nervige und frische Dinge mit der Psychologie von Hollywood und einem abenteuerlichen Geist, der durch den Modernismus hindurchzugehen verstand, ohne gleich alle Erinnerungen an jenen großen Schriftsteller zu verlieren, der auch Hitlers Lieblingsautor zu sein scheint, Dr. Karl May; Maurits Dekker wurde im Handumdrehn berühmt, als er ein waschechtes Pastiche von Durchschnitts-Dostojevsky unter einem russischen Pseudonym herausgab; Theun de Vries, der wohl in der Poesie mit dieser Methode vertraut ge-

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worden sein muß, bemühte sich, einen blutleeren ‘Rembrandt’ durch sehr glänzende Prosa annehmbar zu machen, und gab darauf kaltblütig einen großen Konflikt zwischen Jesuiten und einem Humanisten in absolut gleichem Stil, diesmal aber in Spanien spielend. Die ‘Kraft’ all dieser Werke, die innerhalb der Zunft selbst nun schon die heftigste wechselseitige Bewunderung entfesselt hat, möge uns schadlos halten, wenn wir trotz alledem immer noch keinen einzigen ‘großen’ Autor besitzen. Doch wird es an verschiedenerlei Ausdrucksformen von soviel neuer Kraft gewiß nicht mangeln: dieses Jahr haben wir schon unseren kleinen Döblin oder Dos Passos in dem Roman Sjanghai von Wagener bekommen, wir besitzen unseren kleinen Ehrenburg in dem jungen Autor Revis, und unsere revolutionäre Kraft liegt zünftig vor uns in Partij Remise von Jef Last. Die faschistische Inspiration hat sich, soweit mir bekannt, bis heute lediglich offenbart in einem ebenso billigen wie possierlichen Theaterstück von George Kettmann Jr, aber aller Anfang ist schwer, und die Bewunderung der Parteigenossen findet sich ja des rechten Gleichgewichtes wegen leicht ein.

Vielleicht daß die neue Form der Kultur, auf die die Welt wartet, auch über Holland eine Flut von Meisterwerken strömen läßt; doch wird es wohl niemand wundernehmen, wenn man auch hier später feststellen müßte, daß es hauptsächlich nur die Manie war, mit dem neuen Kodak herumzuknipsen. Daß Proust (der Bourgeois, der Individualist, der ‘Narciss’) gegenwärtig in Sowjetrußland ganz übersetzt wird, gibt zu denken, doch in Erwartung des Siegs unseres Mussert* in der Politik werden uns nun andere Wahrheiten aufgetischt. Der Romancier des Moorlandes Antoon Coolen hat selbst schon verkündet, daß der Regionalismus die einzig wahre Kunstform sei; es ist spaßig zu sehen, wie ein Provinzialismus, der sich instinktiv des Dialekts bedienen mußte, um seine geistige Armut schmackhaft zu machen, auch hier durch das Denkvermögen à la Hitler gerettet werden konnte. Mit dieser

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hoffnungsvollen Tatsache will ich von meiner Generation Abschied nehmen.

Eins will ich Ihnen aber noch schnell sagen: das wirklich ‘nationale Meisterwerk’, das wir von dieser Zeit empfingen, ist van Schendels De Waterman. Der Autor ist um die sechzig und hat sich gewiß nie um politische und gesellschaftliche Dinge gekümmert, lediglich könnte von einem zufälligen Zusammentreffen die Rede sein; aber hier findet man ein pures Holland wiedergegeben in purstem Holländisch, eine vollkommene Harmonie von Sprache, Mentalität, Gestalten und beschriebenen Landschaften. Gewiß hätte ich selbst an dieser Stelle lieber einen Altersgenossen genannt, aber die Wahrheit entschädigt mich, auch auf die Gefahr hin, das Mißfallen der diversen kollektiven Kräfte heraufzubeschwören.

 

(Vertaling door Albert Vigoleis Thelen)

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*Holländischer Faschistenführer.